Himmelfahrt

 

Ich kann das genaue Jahr nicht mehr benennen. Aber ich dürfte 11 Jahre alt gewesen sein. Nach einer Auseinandersetzung meiner Eltern am Mittagstisch, stand meine Mutter auf und ging in den Keller. Getrieben von einem ganz seltsamen Gefühl rannte ich nach einigen Sekunden meiner Mutter hinterher und fand sie in der Garage mit einem Fläschchen E 605 in der Hand, welches sie gerade öffnen wollte. Die Situation war für mich sofort eindeutig, da sich eine Nachbarin, einige Zeit zuvor auf diese Weise umgebracht hatte. Ich riß ihr das Fläschchen aus der Hand und brachte es dem Vater, der dann meinte: "Ach die soll doch nicht so rumspinnen". Kurze Zeit später verließ er das Haus und ließ mich mit der Mutter und meiner 4-jährigen Schwester alleine. Für ihn war das Thema damit erledigt.


Die Folgen:


  • 1. Kinder, und so auch ich, fühlen sich schuldig.
  • 2. Die Vorstellung die Mutter zu verlieren, war eigentlich unvorstellbar.


Natürlich wollte ich meine Mutter nicht verlieren, geschweige denn auch noch daran selbst schuld zu sein. Die Angst, dass sich dies wiederholt und ich vielleicht zu spät komme, war ab diesem "Himmelfahrts-Feiertag" mein ständiger Wegbegleiter. Unzählige Male erfaßte mich panikartige Angst. Wenn ich nicht wußte wo meine Mutter gerade war, rannte ich in die Garage um mich zu vergewissern, dass sie sich zumindest nicht umgebracht hatte.


Aber dieses Ereignis hatte auch noch andere Folgen. Als Kind in dieser Situation, mußte ich zwangsläufig realisieren, dass ich wohl ein so böses Kind bin, dass sich die Mutter umbringen muß. Kinder in diesem Alter empfinden so und werden dadurch nachhaltig geprägt.


Derjenige, welcher die Mutter fast in den Selbstmord getrieben hätte und sein Verhalten eigentlich grundlegend ändern sollte, tat dies nicht. Somit oblag mir die alleinige und viel zu schwere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sich meine Mutter nicht doch noch umbringt. Ich mußte nicht nur ein besonders braves und liebes Kind sein, sondern auch noch versuchen die "negativen" Verhaltensmuster des Vater gegenüber meiner Mutter und mir zu kompensieren. Und dies genau in einem Alter, in dem der Vater dem Sohn das "männliche" Vorbild sein sollte. Dieses Vorbild konnte und wollte ich so nicht akzeptieren. Letztendlich hat sich daraus, vor allem seit der Pubertät, eine schwere Identitätsproblematik entwickelt.


Diese Handlungen habe ich als Kindesmisshandlung empfunden, was mir von meinen behandelnden Therapeuten bestätigt wurde.

(Formulierung gem. Vergleich vom 18.01.2012, Amtsgericht Schorndorf)

 

Vor diesem Hintergrund wurden folgende Diagnosen gestellt:

 

Posttraumatische Belastungsstörung

Angststörung (Verlassenheitsängste)

Schuldgefühle

 

Zwischenzeitlich wird behauptet, dass das Gift gar nicht mehr wirksam gewesen sein soll. Ob altes E 605 unwirksam werden kann, weiß ich nicht. Als Kind konnte ich davon nicht ausgehen.